Der Wiener Terroranschlag – 10 Lehren zur Rolle der sozialen Medien in Terrorlagen

Patrick Meschenmoser, Wien

Den ersten Hinweis, dass sich in meiner Wahlheimat ein Terroranschlag ereignete, erhielt ich über eine Textnachricht. Am Abend des 2. November 2020 hatte eine Bekannte durch befreundete Augenzeugen von den Geschehnissen erfahren, Video vom Geschehen inklusive. Es war der Auftakt eines Anschlags, der nicht nur in den Straßen, sondern auch in den Social Media verübt wurde. Im Laufe der Nacht zeigte sich die Macht sozialer Netzwerke in allen Facetten. Unter dem Hashtag #opendoor boten viele Wiener den in der Stadt Gestrandeten Zuflucht an. Ähnlich hatten schon die Münchner während des Amoklaufs im Juli 2016 reagiert. Restaurants und Bäckereien luden Einsatzkräfte auf einen Kaffee ein, Menschen machten sich gegenseitig Mut und Psychologen boten Traumatisierten ihre Unterstützung an. 

Auch die Wiener Polizei zeigte nicht nur eine beeindruckende Leistung, indem sie den Angreifer innerhalb von neun Minuten nach der Alarmierung außer Gefecht setzte. Twitter-, Instagram- und Facebook-Account der Landespolizeidirektion etablierten sich rasch als zuverlässiger Begleiter in dieser Terrornacht, wichtig vor allem für diejenigen, die unterwegs auf mobile Informationen angewiesen waren. Auch wenn die COVID-Pandemie den Tourismus in der Stadt auf ein Minimum reduziert hatte, dachte die Polizei dabei auch an diejenigen, die nicht Deutsch sprechen. Wien ist nicht nur eine Stadt mit viel Migrationshintergrund. Wien ist auch Sitz zahlreicher internationaler Organisationen. Die erste Warnung wurde in einem halben duzend Sprachen abgesetzt und im weiteren Verlauf zweisprachig in Deutsch und Englisch kommuniziert. 

Dass man bei der Wiener Polizei das Social-Media-Handwerk beherrscht, beweist sie unter anderem täglich über ihren hoch aktiven Twitter-Kanal. Während des Terrorangriffs wurde dieser für Viele zur wichtigsten Informationsquelle, was auch daran lag, dass man frühzeitig den Hashtag #0211w eingesetzt hatte, um Interessierte auf die Botschaften aufmerksam zu machen. Auch für die Strafverfolgung wurden die neuen Medien genutzt. Um Handyvideos und Fotos auswerten zu können, wurde eigens ein Link zur Verfügung gestellt, über den diese hochgeladen werden konnte. Mehr als 20.000 Mal wurde dieser Link genutzt.

Doch hier zeigen sich ebenso die Schattenseiten dieser Kommunikationsplattformen. Videos und Fotos wurden auch tausendfach mit Freunden, Verwandten und aller Welt geteilt. Alle Aufrufe der Behörden, dies zu unterlassen, zeigten nur wenig Wirkung. Dabei gab es einen guten Grund für die Bitte. Die Videos zeigten nicht nur die Täter, sondern auch Einsatzkräfte und andere für Terroristen interessante Informationen. Schon 2008 hatten die Anschläge im indischen Mumbai 2008 gezeigt, dass solche Echtzeitinformation für die Organisation und Steuerung der Angriffe genutzt wurden, etwa um Polizeieinheiten umgehen zu können. Zwar wurde der Anschlag in Wien aller Wahrscheinlichkeit nach von einem Einzeltäter begangen, doch lange musste man von bis zu zehn Attentätern ausgehen.

Zu dieser Verwirrung war es unter anderem ausgerechnet durch Augenzeugenberichte in sozialen Medien gekommen. Bewegt sich ein einzelner Attentäter schnell, entsteht durch viele Nachrichten von unterschiedlichen Anschlagsorten schnell der Eindruck, es gebe zahlreiche Angreifer. Das erhöht die Unsicherheit und die Risikowahrnehmung in der Bevölkerung und verlangt den Behörden große Anstrengungen ab, die Informationen einzuordnen. Auch in Wien gingen viele deswegen zunächst von mehreren Attentätern aus.

Ein ähnlicher Effekt konnte schon beim Amoklauf in München 2016 beobachtet werden. Er entspringt einer sehr menschlichen Reaktion. Wenn in unmittelbarer Nähe ein Terrorangriff stattfindet, und alle Sinne auf Hochbetrieb arbeiten, werden Geräusche und Beobachtungen rasch fehlinterpretiert. Berichte über weitere Anschlagsorte verbreiten sich immer schneller und stellen sich nach und nach als Fehlalarme heraus. Für die Einsatzkräfte bedeutet diese sprunghaft ansteigende Anzahl von Einsatzorten eine zusätzliche Belastung in einer ohnehin herausfordernden Situation. Auch in Wien wurde über Stunden von mehreren angeblichen Geiselnahmen in Restaurants und Hotels berichtet. Gefährlich wird es, wenn aus dieser Ungewissheit und Verwirrung Panik entsteht. 2016 in München wurden Menschen zum Teil schwer verletzt, als sie kilometerweit vom eigentlichen Tatort entfernt aus einer Gaststätte flohen. Jemand wollte Schüsse gehört haben. Der Amokläufer hatte sich da bereits selbst gerichtet. Ähnliches wurde aus Wien glücklicherweise nicht berichtet.

Eine weitere Herausforderung sind Augenzeugenberichte, die keine sind. Ein prominentes Beispiel dafür ist eine vermeintliche Augenzeugin, die während des Amoklaufs 2009 im deutschen Winnenden live über Twitter vom Geschehen berichtete. Es stellte sich heraus, dass sie nicht nur viele Kilometer vom Geschehen entfernt war, sondern lediglich Informationen des Lokalradios wiederholte. Allerdings verwendeten einige Medien diese Tweets als primäre Quelle zum Tatgeschehen und machten sie zunächst ungeprüft zur Grundlage ihrer Berichterstattung. Ähnliches war auch in Wien zu sehen. Hier waren es vor allem die Videos, die von privaten Fernsehanstalten und Webseiten, entgegen der behördlichen Aufforderungen, zur Liveberichterstattung genutzt wurden. Auch die Gerüchte über vermeintliche Geiselnahmen wurden dort fleißig weiterverbreitet.

Daher nutzen Terroristen soziale Medien nicht nur zur operativen Aufklärung. Sie nutzen sie zum Angriff und verstärken Verwirrung, Unsicherheit und Angst, teilweise auch von sympathisierenden Trittbrettfahrern. Es wird vor weiteren Anschlägen gewarnt, dass dies nur der Anfang sei. Der verwirrende Effekt durch falsche Tatortberichte wird ausgenutzt und dafür gesorgt, dass diese nicht nur weiterverbreitet, sondern durch eigene Falschinformationen angereichert werden. Im Gegensatz zu fahrlässigen Gerüchten sind dies dezidierte Desinformationsaktivitäten, die dann von den Nutzern sozialer Medien, meist arglos, weiterverbreitet werden. Kommen dann manche Medien nicht ihrer Sorgfaltspflicht nach und verbreiten diese Gerüchte und Desinformationen ungeprüft, besorgt man das Geschäft der Attentäter. Denn der wesentliche Grund solcher Attacken ist die Propaganda und jeder weitergeleitete Tweet, jedes publizierte Video arbeitet wie ein kleines Zahnrad in der PR- und Rekrutierungs-Maschinerie der Terroristen.

Eine besondere Herausforderung stellen Messangerdienste wie WhatsApp dar, über die Gerüchte rasend schnell im Freundes- oder Familienkreis verbreitet werden können. Dies unter dem Radar der Behörden, die nur die öffentlichen Kanäle beobachten können. Oft kommen diese Gerüchte dann auch erst zutage, wenn sie auf Twitter oder Instagram geteilt werden. So wurde während des Wiener Angriffs eine Audionachricht verbreitet, wonach die Polizei die Einsatzbereitschaft wegen eines bevorstehenden Anschlags in Graz herstelle. In Indien wurde 2012 mithilfe solcher, über WhatsApp verbreiteten, Falschmeldungen gar ein ganzer Terroraschlag ausgeführt. Man versetze die Menschen so sehr in Angst, dass sie aus der betreffenden Region flohen. Dabei kamen an überfüllten Bahnhöfen zahlreiche Menschen zu Schaden. Über die sogenannte „Weaponization“ der Social Media habe ich bereits Anfang letzten Jahres einen Artikel geschrieben.

Was also sind die Lehren, die aus Wien und ähnlichen Attacken gezogen werden können? Wie können wir die sozialen Medien einerseits effektiv zur Information in Terrorlagen nutzen, ohne sie gleichzeitig zum Werkzeug der Terroristen machen?

Folgende Lehren sollten wir aus den Ereignissen in Wien und ähnlichen Attacken ziehen:

  1. Social-Media-Accounts lokaler Behörden, insbesondere der Polizei, können eine effektive und zuverlässige Quelle mobiler Information sei. Dabei sollte nicht nur auf Twitter oder Facebook gesetzt werden. Die junge Generation ist mehrheitlich auf Instagram oder TikTok unterwegs. Die Kommunikation muss so schnell und intensiv wie irgend möglich erfolgen, auch wenn noch keine Details bekannt sind. Die Bevölkerung wird verstehen, wenn Behörden nicht sofort alle Informationen haben. Es ist jedoch entscheidend, dass sie sich schnell als zuverlässige Informationsquelle etablieren, indem sie über Aktivitäten soweit möglich informieren.
  2. Ohne verlässliche Informationen werden sich Gerüchte und Spekulationen rasch aufschaukeln und können zu Panikreaktionen führen.
  3. Behörden müssen Wellenbrecher in der Flut von Spekulationen sein, indem nur gesicherte Informationen veröffentlicht werden.
  4. Nicht jeder versteht die Landessprache. Gerade in Großstädten ist es unabdingbar, zumindest auch auf Englisch zu kommunizieren.
  5. Wichtig ist eine koordinierte Information aller Behörden, um Widersprüche zu vermeiden. Noch besser: Ein zuvor festgelegter Leitkanal, auf den andere Behörden verweisen oder den sie zitieren.
  6. Einschlägige Hashtags sollten schnell etabliert werden, um Betroffenen das Auffinden relevanter Informationen zu erleichtern.
  7. Ein Upload-Link für Bilder und Videos erleichtert die Auswertung und Sichtung des Materials. Er sollte mit dem Hinweis veröffentlich werden, das Material nicht anderweitig zu teilen.
  8. Es ist entscheidend, sofort ein effektives Monitoring der Social-Media-Kanäle aktivieren zu können. Nur wer weiß, was in den sozialen Medien geteilt wird, kann effektiv kommunizieren und Gerüchte eindämmen. Auch an Messangerdienste wie WhatsApp sollte gedacht werden. Selbst wenn diese nicht umfassend überwacht werden können kann dort über eigene Accounts und Chatgruppen kommuniziert werden und unter dem Radar verbreiteten Gerüchten so solide Informationen entgegengesetzt werden.
  9. Terroristen und Sympathisanten werden soziale Medien nutzen, um mit Desinformationen Unsicherheit und Angst zu schüren.
  10. Und das Wichtigste: Ohne eine gute Vorbereitung in Friedenszeiten, eingespielte und geschulten Social-Media-Redakteuren und regelmäßige Übungen ist eine effektive Antwort auf diese Herausforderungen nicht möglich.

Am Ende liegt es aber auch an uns allen, Terroristen nicht in die Hände zu spielen, indem wir keine Spekulationen verbreiten, keine Gerüchte weiterleiten oder nicht der Likes wegen Videos teilen, die den Einsatzkräften schaden könnten. Wenn wir uns der beschriebenen Mechanismen bewusst sind, könnte das im Fall der Fälle helfen, eine ohnehin schwierige Situation nicht noch schlimmer zu machen.