Graue Nashörner im schwarzen Federkleid – Warum COVID-19 kein schwarzer Schwan ist

Patrick Meschenmoser, Wien

Die Diskussion um COVID-19 und welches Risiko der Ausbruch darstellt ist auf den Schwan gekommen, den schwarzen. Als schwarze Schwäne werden singuläre, äußerst unwahrscheinliche oder unerwartbare Ereignisse bezeichnet, auf die man sich nicht vorbereiten konnte. Vor allem an den kollabierenden Börsen dieser Welt muss das arme Tier nun als Sündenbock dafür herhalten, dass der Virus so großen Schaden anrichtet. Doch eine Pandemie wie die jetzige kommt alles andere als unerwartet. Sie ist kein schwarzer Schwan, sie ist ein graues Rhinozeros.

Vor dem 11. März 2011 hatte niemand die Verkettung von derart vielen unglücklichen Ereignissen für möglich gehalten, die schließlich zum Reaktorunfall von Fukushima führen sollte. Der Erdbebengefahr war man sich in Japan natürlich bewusst und hatte das Kraftwerk entsprechend robust ausgelegt. Auch für etwaige Probleme mit der Stromversorgung der Reaktorkühlung hatte man vorgesorgt. Sollten die Reaktoren heruntergefahren werden und keinen Strom mehr produzieren, konnte die Kühlung der immer noch Hitze produzierenden Brennstäbe über das Stromnetz von außen betrieben werden. Sollte auch diese Möglichkeit ausfallen, standen mehrere Dieselaggregate zur Notstromversorgung zur Verfügung. Für den fast unmöglichen Fall, dass alle Notstromaggregate auf einmal ausfielen, gab es ein System, das die Reaktoren mittels Kondensation und Schwerkraft so lange mit Kühlwasser versorgen sollte, bis die Dieselgeneratoren in Gang gesetzt wären. Für die Aktivierung dieses Systems hätten die Batterien genügt, die noch als weitere Notstromquelle installiert worden waren. Auch gegen einen möglichen Tsunami war das am Meer gelegene Kraftwerk durch eine Schutzmauer gewappnet. Diese war einige Zeit vor der Katastrophe sogar noch erhöht worden. Die Anlage war auf alle Eventualitäten vorbereitet. Nur mit einem hatte niemand gerechnet: Alle Risiken traten gleichzeitig ein und manche waren weit größer als erwartet.

Der schwarze Schwan von Fukushima

Das Erdbeben von 2011 erreichte 9,0 auf der Richterskala. Ein stärkeres hatte es in Japan seit Aufzeichnungsbeginn nicht gegeben. Es führte, wie vorgesehen, zur Notabschaltung der Reaktoren, womit das Kraftwerk keinen Strom mehr produzierte. Die zerstörerischen Erschütterungen zerrissen jedoch auch die Überlandleitungen und damit die Verbindung zum externen Stromnetz. Folglich sprangen als nächste Sicherheitsstufe die Diesel an. Sie taten zuverlässig ihren Dienst bis der vom Beben ausgelöste Tsunami das Kraftwerk überflutete. Die Schutzmauer war nicht auf über 10 Meter hohe Flutwellen ausgelegt, da ähnlich große Tsunamis in der japanischen Geschichte nicht überliefert waren. Die Wassermassen überspülten Dieselaggregate und Batterien, die daraufhin versagten. Eine Kernschmelze war nun praktisch unvermeidlich. Der schwarze Schwan war gelandet.

Der Finanzmathematiker und Publizist Nassim Nicholas Taleb war der erste, der solche unvorhergesehenen Ereignisse als schwarze Schwäne bezeichnete. Im gleichnamigen Buch von 2007 erzählt er, wie man in Europa an die mögliche Existenz solcher Tiere gar nicht gedacht worden war, bevor Seefahrer solche Exemplare im 17. Jahrhundert in Australien entdeckten. In der Vergangenheit waren sie schlicht nicht in Erscheinung getreten oder in historischen Dokumenten beschrieben worden, ähnlich dem großen Tsunami von 2011.

Warum COVID-19 anders ist

All das hat mit dem derzeitigen Ausbruch des Coronavirus nicht das Geringste zu tun. Auf den Risikohitlisten dieser Welt stehen Pandemien schon lange ganz weit oben. Dabei braucht man nicht einmal die Spanische Grippe von 1918 mit ihren, nach Schätzungen, weltweit bis zu 50 Millionen Toten zu bemühen. Man könnte schließlich argumentieren, dass die medizinische Entwicklung seither große Fortschritte zur Bekämpfung solcher Ausbrüche gemacht hat. Aber spätestens seit der SARS-Pandemie in den Jahren 2002 und 2003 war klar, dass sich ein Virus in einer globalisierten Welt, wenngleich er nicht annähernd so viele Menschen tötete wie die spanische Grippe, doch rasend schnell in der Welt ausbreiten und auch ganz andere Dinge infizieren kann als Menschen. Als ich 2004 meine erste Anstellung nach dem Studium im Lufthansa Konzern antreten durfte, war ich mehr als nur glücklich, denn eigentlich herrschte dort ein Einstellungsstopp. Der Luftfahrtkonzern hatte immer noch mit den enormen Folgen von SARS und eines quasi zusammengebrochenen Luftverkehrs vor allem von und nach Asien zu kämpfen. Schon damals wurden Großveranstaltungen abgesagt, Währungen wie der Singapur-Dollar abgewertet und Reisewarnungen erlassen. SARS hatte auch das sozioökonomische Leben infiziert, und das bei „nur“ rund 8.000 offiziell gemeldeten Fällen. Große Influenza-Pandemien wie 2009 die „Schweinegrippe“ (H1N1), auf deren Konto bei Beendigung des Pandemie-Alarms im August 2010 offiziell rund eine Million registrierte Infizierte und etwa 18.500 Tote gingen, zeigten aber bereits wie schnell sich auch große Zahlen von Menschen infizieren konnten. Die Dunkelziffer für die H1N1-Epidemie liegt, wie immer bei solchen Ausbrüchen, noch um ein Vielfaches höher.

Kurz: COVID-19 ist kein schwarzer Schwan. Man wusste nicht nur aus der Vergangenheit, dass es große Pandemien gibt, sondern konnte in den letzten Jahren auch erleben, wie sehr die vernetzte, globalisierte Welt eine Ausbreitung beschleunigt und wie sensibel die Wirtschaft auf solche Ereignisse reagiert. Organisationen wie die WHO verfassen zudem regelmäßig umfangreiche Studien mit entsprechenden Warnungen. Wenn eine Bedrohung so offensichtlich und historisch belegt ist und deren Eintritt darüber hinaus so wahrscheinlich, dann spricht man in der Welt des Risikomanagements von einem grauen Rhinozeros. Graue Nashörner sind absolut erwartbar, denn es gibt nicht allzu viele nicht-graue Exemplare und sie sind schwer zu übersehen. Die amerikanische Politologin Michele Wucker postulierte 2013 als erste die Idee der grauen Dickhäuter. Charakteristisch für solche Bedrohungen sei, dass sie nicht nur ein hohes Schadenspotenzial aufweisen und ihr Eintritt überaus wahrscheinlich ist, sondern dass das Risiko, das sie darstellen konsequent ignoriert wird.

Es sind daher auch gar nicht Behörden und Unternehmen, die seit dem Ausbruch des Coronavirus von einem schwarzen Schwan sprechen. Hier hat man meist Lehrern aus den Pandemien der letzten Jahre gezogen und entsprechende Pläne erstellt oder aktualisiert. Sicher mögen diese nicht allerorten ausreichen. Bei solchen, sich schnell entwickelnden Krankheiten ist je nach Art des Erregers stets ein gewisses Maß an Improvisation erforderlich. Doch wenn man etwa die Luftfahrtindustrie betrachtet, die frühzeitig Kapazitätskürzungen vorgenommen hat,  oder auch Gesundheitsbehörden wie in Österreich, die heute auf gesetzlichen Grundlagen operieren können, die nach den Erfahrungen mit Schweine- und Vogelgrippe angepasst worden waren, sieht man eine gewisse Vorbereitung. Dasselbe gilt für die Erkenntnis, wie entscheidend in einer Welt der Social Media die schnelle und kontinuierlich Information ist und welch großen Schaden Gerüchte oder gar absichtliche Desinformationen in kürzester Zeit weltweit anrichten können. Hier gilt es die Vorbereitungen zur Krisenabwehr immer wieder zu überprüfen und an die sich schnell verändernde Medienwelt und Kommunikationskultur anzupassen.

Der schwarze Schwan als Sündenbock

Nein, der schwarze Corona-Schwan wurde ausgerechnet auf dem Börsenparkett gesichtet, also in der Finanzwelt in der auch Taleb und Wucker ihre Ansichten veröffentlichten. Hier wird COVID-19 von einigen Brokern und Finanzjournalisten als Ereignis beschrieben, das man nicht vorhersagen konnte. Dass eine Pandemie den weltweiten Finanzmarkt durchschütteln würde, wenn sie das sozioökonomische Leben erreicht, war jedoch spätestens seit SARS klar. Auch braucht man kein Hellseher zu sein, um vorherzusehen, dass der Ölpreis fällt, wenn die weltweite Produktion leidet. Dass es unter den Ölproduzenten Streitigkeiten gibt, die gerade in solchen Zeiten eskalieren können, war ebenfalls bekannt. Man hat am Finanzmarkt schlicht nicht wie andernorts die Lehren aus der Vergangenheit gezogen. Nun kann man sagen, der Markt regelt das eben nach seiner eigenen Mechanik. Das mag sein. Genauso könnte man argumentieren, dass man keine Exportverbote für Schutzausrüstung erlassen und die Verfügbarkeit von essentiellen Gütern für die eigene Bevölkerung einfach den Markt regeln lassen sollte. Doch das wäre eine ganz eigene Diskussion.

Wichtig ist eines: COVID-19 ist mit Sicherheit kein schwarzer Schwan, sondern ein graues Rhinozeros, das von den Unvorbereiteten zum Sündenbock gemacht wird. Sollte daher bei der nächsten Besprechung zu Krisenplänen oder Risikovorsorge jemand den Satz sagen „Das ist absolut unwahrscheinlich!“, lohnt es sich nochmals genau hinzusehen, denn vielleicht sitzt das graue Nashorn schon am Tisch.